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Liebe Biblio-ListlerInnen,
die Stadtbibliothek Bruneck lädt alle Interessierten recht herzlich ein zur
Lesung mit Jürg Amann. Der Schweizer Autor liest aus seinem Buch "Mutter töten"
am Dienstag, dem 27. April 2004 mit Beginn um 20.00 Uhr. Anschließend laden wir
zu einem Glas Wein. Wir freuen uns wie immer auf viele BesucherInnen.
Michaela Grüner, Stadtbibliothek Bruneck
Kurzbeschreibung
In vier miteinander verknüpften Erzählungen rollt Jürg Amann das zwiespältige
Verhältnis eines Mannes zu seiner Mutter auf: "Die Reise" des Knaben mit der
Mutter führt in den Süden, ins Heimatdorf des nie gekannten Großvaters, und
lässt ihn erfahren, was es heißt, "nie gewollt" worden zu sein; im darauf
folgenden "Nachtstück" wird das heranwachsende Brüderpaar vom übermächtigen
Bild der mit harten Strafen, aber auch mit ihrem Selbstmord drohenden Mutter
verfolgt; in "Mutter töten" sieht sich der erwachsene Sohn mit der Bitte der
hinfällig Gewordenen um Sterbehilfe konfrontiert, seine zwischen Verständnis,
Skepsis, Zorn, Pflichtbewusstsein und Kindesliebe schwankenden Gefühle werden
immer mehr zur tiefen Zuneigung; in einem poetischen "Requiem" der respekt- und
liebevollen Erinnerung wird schließlich Frieden gemacht, kommt es zur
endgültigen Versöhnung, im wörtlichen Sinn. Jürg Amann urteilt nie, verurteilt
schon gar nicht. Auch nicht, wenn erwartete Kindesliebe auf eine harte Probe
gestellt wird. Andererseits ist die der sterbenden und toten Mutter
entgegengebrachte Liebeserklärung nie kitschig, sondern strahlt berührende
Zärtlichkeit aus. Es ist Amanns Erzählkunst, es ist vor allem seine Sprache,
die selbst in den heikelsten Facetten des Themas keine Peinlichkeiten aufkommen
lassen.
Über den Autor
Jürg Amann, geboren 1947 in Winterthur, Studium der Germanistik,
Literaturkritiker und Dramaturg, seit 1976 freier Schriftsteller (Prosa,
Theaterstücke, Hörspiele, Lyrik, Essays). Zahlreiche Preise, u. a.
Ingeborg-Bachmann-Preis, Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, ausgezeichnet bei der
Floriana 2002 (für Auszüge aus "Mutter töten"). Lebt in Zürich. Bei Haymon:
Zwei oder drei Dinge. Novelle (1993); Über die Jahre. Roman (1994); Und über
die Liebe wäre wieder zu sprechen. Gedicht (1994); Schöne Aussicht. Prosastücke
(1997); Kafka. Wort-Bild-Essay (2000); Am Ufer des Flusses. Erzählung (2001)
Helmuth Schönauer zu "Mutter töten":
So ein Titel passt wohl gar nicht zum Mutterbild, wie es Jahr für Jahr zu
Muttertagen aufgetischt wird. "Mutter töten" hat etwas Unverfrorenes und wohl
auch Erschreckendes an sich.
Jürg Amann zieht immer engere Kreise um das Thema, das letztlich jeden Menschen
bedroht, denn wenn die Mutter tot ist, ist auch der letzte Rest der eigenen
Kindheit verloren.
In vier Episoden, die wie Jahreszeiten unter einem Sinkflug in den Abschied
anmuten, kommt jener Zustand immer näher, an dessen Ende der Atem ausbleibt. In
der ersten Episode ist das erzählende Ich noch klein und unerschüttert von der
Welt und fährt zurück zu den Wurzeln der Großmutter. Im Vordergrund steht die
Eisenbahnfahrt, die neue Umgebung, und während die Mutter seltsam ausgestoßen
von der eigenen Herkunft in die Erinnerung versinkt, erlebt der Erzähler die
Tage als unschuldiges Abenteuer, denn alles ist gut.
Die zweite Episode lässt die Brüder nächtelang zittern vor der Mutter, die in
völliger Überforderung Selbstmordgedanken hegt.
"Mutter töten" heißt die Sequenz, in der sich der Erzähler überlegt, ob er die
Coolness hätte, wie in einem Film seine Mutter auf Wunsch zu töten. Allein die
Bilder sind unbarmherzig und verlässlich klar, wenn der Plastiksack über dem
Kopf der Mutter gestülpt wird und irgendwann auf halbem Sackvolumen die Atmung
zum Stillstand kommt.
Das Requiem schließlich folgt dem Wortlaut eines Requiems, das Verlöschen der
Körperfunktionen erfolgt nach der stringenten Melodie des Requiems bis hin zum
endgültigen Wort "Exitus".
Jürg Amanns Todesreigen beschreibt eine Seelenvegetation, die wie
selbstverständlich ihre Blätter verliert, wenn es an der Zeit ist. In größter
Intimität bleiben die Gedanken seltsam klar und nah, als ob ein Pilot nach
einer Checkliste vorginge, um das Projekt "persönlicher Tod" zur Landung zu
bringen. Trotz aller Endgültigkeit verströmen die Texte jene beruhigende
Gelassenheit und Verlässlichkeit, die von einer ganz besonderen Literatur
ausgeht.
Fazit: Große Intimität und Offenheit bei einem sensiblen Thema.
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