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Lesung mit Jürg Amann

To: <biblio-list@provinz.bz.it>
Subject: Lesung mit Jürg Amann
From: "Michaela Grüner" <grumic00.bruneck@gvcc.net>
Date: Mon, 26 Apr 2004 08:26:09 +0200
Sender: owner-biblio-list@provinz.bz.it
Precedence: bulk

Liebe Biblio-ListlerInnen,

die Stadtbibliothek Bruneck lädt alle Interessierten recht herzlich ein zur 
Lesung mit Jürg Amann. Der Schweizer Autor liest aus seinem Buch "Mutter töten" 
am Dienstag, dem 27. April 2004 mit Beginn um 20.00 Uhr. Anschließend laden wir 
zu einem Glas Wein. Wir freuen uns wie immer auf viele BesucherInnen.

Michaela Grüner, Stadtbibliothek Bruneck


Kurzbeschreibung
In vier miteinander verknüpften Erzählungen rollt Jürg Amann das zwiespältige 
Verhältnis eines Mannes zu seiner Mutter auf: "Die Reise" des Knaben mit der 
Mutter führt in den Süden, ins Heimatdorf des nie gekannten Großvaters, und 
lässt ihn erfahren, was es heißt, "nie gewollt" worden zu sein; im darauf 
folgenden "Nachtstück" wird das heranwachsende Brüderpaar vom übermächtigen 
Bild der mit harten Strafen, aber auch mit ihrem Selbstmord drohenden Mutter 
verfolgt; in "Mutter töten" sieht sich der erwachsene Sohn mit der Bitte der 
hinfällig Gewordenen um Sterbehilfe konfrontiert, seine zwischen Verständnis, 
Skepsis, Zorn, Pflichtbewusstsein und Kindesliebe schwankenden Gefühle werden 
immer mehr zur tiefen Zuneigung; in einem poetischen "Requiem" der respekt- und 
liebevollen Erinnerung wird schließlich Frieden gemacht, kommt es zur 
endgültigen Versöhnung, im wörtlichen Sinn. Jürg Amann urteilt nie, verurteilt 
schon gar nicht. Auch nicht, wenn erwartete Kindesliebe auf eine harte Probe 
gestellt wird. Andererseits ist die der sterbenden und toten Mutter 
entgegengebrachte Liebeserklärung nie kitschig, sondern strahlt berührende 
Zärtlichkeit aus. Es ist Amanns Erzählkunst, es ist vor allem seine Sprache, 
die selbst in den heikelsten Facetten des Themas keine Peinlichkeiten aufkommen 
lassen. 

Über den Autor
Jürg Amann, geboren 1947 in Winterthur, Studium der Germanistik, 
Literaturkritiker und Dramaturg, seit 1976 freier Schriftsteller (Prosa, 
Theaterstücke, Hörspiele, Lyrik, Essays). Zahlreiche Preise, u. a. 
Ingeborg-Bachmann-Preis, Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, ausgezeichnet bei der 
Floriana 2002 (für Auszüge aus "Mutter töten"). Lebt in Zürich. Bei Haymon: 
Zwei oder drei Dinge. Novelle (1993); Über die Jahre. Roman (1994); Und über 
die Liebe wäre wieder zu sprechen. Gedicht (1994); Schöne Aussicht. Prosastücke 
(1997); Kafka. Wort-Bild-Essay (2000); Am Ufer des Flusses. Erzählung (2001) 


Helmuth Schönauer zu "Mutter töten":
 
So ein Titel passt wohl gar nicht zum Mutterbild, wie es Jahr für Jahr zu 
Muttertagen aufgetischt wird. "Mutter töten" hat etwas Unverfrorenes und wohl 
auch Erschreckendes an sich. 

Jürg Amann zieht immer engere Kreise um das Thema, das letztlich jeden Menschen 
bedroht, denn wenn die Mutter tot ist, ist auch der letzte Rest der eigenen 
Kindheit verloren. 

In vier Episoden, die wie Jahreszeiten unter einem Sinkflug in den Abschied 
anmuten, kommt jener Zustand immer näher, an dessen Ende der Atem ausbleibt. In 
der ersten Episode ist das erzählende Ich noch klein und unerschüttert von der 
Welt und fährt zurück zu den Wurzeln der Großmutter. Im Vordergrund steht die 
Eisenbahnfahrt, die neue Umgebung, und während die Mutter seltsam ausgestoßen 
von der eigenen Herkunft in die Erinnerung versinkt, erlebt der Erzähler die 
Tage als unschuldiges Abenteuer, denn alles ist gut. 

Die zweite Episode lässt die Brüder nächtelang zittern vor der Mutter, die in 
völliger Überforderung Selbstmordgedanken hegt. 

"Mutter töten" heißt die Sequenz, in der sich der Erzähler überlegt, ob er die 
Coolness hätte, wie in einem Film seine Mutter auf Wunsch zu töten. Allein die 
Bilder sind unbarmherzig und verlässlich klar, wenn der Plastiksack über dem 
Kopf der Mutter gestülpt wird und irgendwann auf halbem Sackvolumen die Atmung 
zum Stillstand kommt. 

Das Requiem schließlich folgt dem Wortlaut eines Requiems, das Verlöschen der 
Körperfunktionen erfolgt nach der stringenten Melodie des Requiems bis hin zum 
endgültigen Wort "Exitus". 

Jürg Amanns Todesreigen beschreibt eine Seelenvegetation, die wie 
selbstverständlich ihre Blätter verliert, wenn es an der Zeit ist. In größter 
Intimität bleiben die Gedanken seltsam klar und nah, als ob ein Pilot nach 
einer Checkliste vorginge, um das Projekt "persönlicher Tod" zur Landung zu 
bringen. Trotz aller Endgültigkeit verströmen die Texte jene beruhigende 
Gelassenheit und Verlässlichkeit, die von einer ganz besonderen Literatur 
ausgeht. 

Fazit: Große Intimität und Offenheit bei einem sensiblen Thema. 



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