Was ist an der neuen Systematik systematisch?
Diese Mail ist ungewöhnlich lange. Ich will niemanden langweilen,
sondern hoffe, einen Beitrag zur
angestoßenen Diskussion zu leisten, wer was wann
sinnvollerweise mit welchen Personalressourcen wozu durchführen soll.
Sie darf sich ruhig auf BiKo und Bib2000 ausweiten... und die Frage,
wie man ehrenamtliche Bibliothekare dazu motiviert, sich das alles
anzutun.
Der Erfahrungsbericht der "Testbibliotheken" bestätigt einen Verdacht,
der sich zumindest mir schon bei einer ersten oberflächlichen
Beschäftigung mit der neuen ESSB aufdrängte: Das Amt für Bibliotheken
und Lesen selbst ließ sich mehrere Jahre Zeit, die einzelnen
Sachgebiete nacheinander zu überarbeiten (warum eigentlich? Wenn man
davon ausgeht, dass ein Gebiet jeweils durch kompetente Fachleute
bearbeitet werden sollte, wäre anfangs auch die parallele Überarbeitung
möglich gewesen). Nun aber musste schnell-schnell zum Jahresende alles
endlich in Papierform gepresst werden, damit das Amt in Klausurtagung
gehen und sich damit beschäftigen konnte, was auf die ehren- und
hauptamtlichen Bibliothekare demnächst noch alles zukommt, bevor man
auch nur einen Gedanken daran verschwendet, was die Einführung der
neuen ESSB (neben BiKo und Bib2000) in der Praxis vor Ort mit sich
bringt. Wir dürfen gespannt sein.
Zunächst: Es ist natürlich leichter, etwas zu kritisieren, als es
selbst besser zu machen. Aber wenn - wie die Mail der
"Testbibliotheken" zeigt - vorher fast niemand gefragt wurde und
Anregungen kaum zur Kenntnis genommen wurden, muss man sich Kritik halt
hinterher gefallen lassen.
1. Warum eine neue Systematik?
Eine Überarbeitung von etwas Bestehendem sollte in der Regel bisherige
Schwachpunkte beseitigen. Der Arbeitsaufwand ist nur dann
gerechtfertigt, wenn der Nutzen größer ist als die Kosten. Daran muss
sich die neue ESSB messen lassen.
Der Nutzen einer Systematik liegt darin, dass die Benützer einer
Bibliothek, Bibliothekare vor allen anderen, schnell wissen, wo sie was
finden können. Das ist nicht mehr gewährleistet, wenn es zu viele
Systematikstellen gibt, durch die das Ganze unübersichtlich wird, oder
wenn die subjektiven Spielräume bei der Vergabe von Systematikstellen
durch Überschneidungen zu groß werden. Bei zu wenig Systematikstellen
ergibt sich hingegen das praktische Problem, dass ein Sachgebiet so
viele Bücher umfasst, dass die Suche im Regal zeitaufwändig wird.
Einen Mittelweg zu finden ist nicht immer leicht, doch ein Blick in
eine größere Bibliothek Südtirols hätte gereicht, diese Schwachpunkte
in der alten ESSB zu finden: Etwa Doppelgleisigkeiten (Te 5.1 und Na
2.5, wo Software-Handbücher gemischt untergebracht wurden), zu
umfangreiche Sachgebiete (Ge 4.1, Ge 5.1.1 usw.) oder Themen, die
schlichtweg nirgends unterzubringen waren und dann unter dem allseits
beliebten XX 9 landeten.
2. Organisatorisches
Vorhersehbar sind praktische Probleme:
- Der BVS verwendet ab sofort die neue ESSB, das Chaos im Regal ist
vorprogrammiert. Dabei hat schon Libro7 die mangelhaft umgesetzte
Möglichkeit vorgesehen, verschiedene Systematiken zu verwalten - wie
steht es mit Bib2000? Und was passiert mit denen, die gar nicht
umstellen wollen, weil es genügend Gründe gibt, sich die Arbeit nicht
anzutun? Die Möglichkeit, auch weiterhin - zumindest für eine
Übergangszeit - beide Systematiken anzubieten, ist wünschenswert.
Ansonsten bliebe noch die Alternative, alles vor Ort selbst wieder auf
die alte Systematik umzustellen.
- Bibliotheken haben die seltsame Eigenschaft, dass die Kunden die
ersteigerte Ware wieder zurückbringen sollten und die breite Auswahl in
den Regalen mutwillig durcheinanderbringen. Eine Umstellungsphase ist
also gar nicht so einfach zu bewältigen, falls die Bibliothek nicht
geschlossen wird oder Sachbücher zeitweise nicht entlehnbar sind.
Praktische Erfahrungsberichte könnten sehr hilfreich sein, eine
Koordination entsprechender Angebote ebenso. Ein Zeitrahmen für den
schrittweisen Umstieg südtirolweit wäre denkbar - für jene, die
überhaupt umsteigen wollen. Der BVS könnte sich dem anpassen, um das
beschriebene Chaos im Regal zu vermeiden.
- 5-10 Minuten pro Buch zu kalkulieren halte ich für realistisch.
Auch wenn nicht alles eine neue Signatur erhält, muss man das zuerst
einmal kontrollieren, und die manuelle Arbeit ist immens. Wenn dann mal
der Drucker nicht mitspielt...
3. Die neue ESSB
Zunächst stellt sich die Frage, ob sie noch die Bezeichnung
"Einheitssystematik" verdient. Schließlich wird angeregt, dass kleinere
Bibliotheken ganz darauf verzichten und auf Interessenskreise
übergehen. Bei der Belletristik haben manche das ja schon umgesetzt,
und Südtirols Leser sind nun also mit verschiedenen Systemen in
verschiedenen öff. Bibl. konfrontiert. Der Anreiz, zwingend auf die
neue ESSB umzusteigen, wird vermindert.
Dann gibt es Neuerungen, bei denen nicht klar ist, warum sie eingeführt
wurden:
- Jugendsachbücher fallen weg, obwohl es mittlerweile braune Din
A4-Etiketten gibt und man auch auf andere Farben ausweichen gekonnt
hätte. Man muss wirklich nicht Psychologe sein, um zu wissen, dass ein
Jugendlicher, der etwas auf sich hält, niemals in die Nähe eines Regals
mit Kindersachbüchern gerät (jene mit schwachem Selbstbewusstsein erst
recht nicht). Einen Mittelschüler aber vor das Regal mit Wälzern für
Erwachsene zu schicken, zwischen denen die dünnen Jugendsachbücher fast
untergehen, dürfte die Nutzer überfordern. Was verspricht man sich vom
Wegfall der Jugendsachbücher?
- Bei Kindersachbüchern beschränkt man sich immer noch auf die
Grobeinteilung. Kinder wären allerdings am dringendsten auf die Hilfe
durch Bibliothekare angewiesen, und wenn diese halbwegs schnell und
effizient geleistet werden soll, kommt den Bibliothekaren die
Feineinteilung sehr entgegen, sie erspart zeitraubendes Suchen.
- Mit dem Argument, dass die Leser nichts mit dem Hochstellen von
Etiketten bei Tirolensien anfangen können, wurde es aufgegeben. Aus der
Praxis behaupte ich, dass die meisten Leser mit der Systematik
insgesamt - der ESSB ebenso wie irgend einer anderen - nichts
anzufangen wissen. UNS Bibliothekaren war das Hochstellen hingegen eine
Hilfe und damit sinnvoll. Außerdem ergibt sich ein praktisches Problem
beim Altbestand: Man überklebt die alten hochgestellten, oder man hätte
zwei Schildchen untereinander. Was sollen Leser davon halten?
- Beispiel Schulbibliotheken: Ob Pä 4.1 mit Anhängesignatur (alt)
oder jeweils Sachgebiets-Unterpunkt 10 (neu), in öffentlichen
Bibliotheken spielt das Sachgebiet kaum eine Rolle. In
Schulbibliotheken, wo Fachbücher meistens ohnehin nur den Lehrern
zugänglich sind, muss man einfach nur Pä 4.1 mit Anhängesignatur dem
jeweiligen Fachgebiets-Unterpunkt 10 zuordnen, ohne dass dieser dort
weiter unterteilt wäre (mit Ausnahme von Li, So und Na, was aber mit
Geschick bei der Vergabe der alten Anhängesignaturen auch erreichbar
war). Das bedeutet nichts als neue Etiketten kleben. Wo ist der
Zusatznutzen?
Im Einzelnen fällt einiges schnell auf:
- Ge 4.1 und Ge 5.1.1 sind nun besser unterteilt, was sicher
praktisch ist. Ebenso ist die Umstellung von Na 7 auf Me wahrscheinlich
eine der sinnvollsten und leicht durchführbaren Neuerungen. Ohne die
Unterteilung jeweils genauer angesehen zu haben, könnte ich mir
vorstellen, dass Bibliotheken, die nicht vollständig umstellen wollen,
diese Änderungen übernehmen.
- Manchmal wird es allerdings zu viel des Guten. "Essen &
Trinken" auf 25 Stellen aufzuteilen ist nicht nur unübersichtlich. Es
dürfte außerdem kaum ein Buch geben, bei dem die genaue Zuteilung nicht
schwer fällt, da Kochbücher häufig "von allem etwas" enthalten.
Beispiele:
"Backen" Ha 2.6.7, "Vollwertbacken" Ha 2.6.4. "Pasta und andere
Teigwaren" Ha 2.7.3 (interessanterweise "Hier auch: Reisgerichte"),
"Knödel" bei Ha 2.6.1, "Pizza" bei Ha 2.6.2, "Frittieren" Ha 2.6.5,
"Preiswerte Küche" und "Schnelle Küche" Ha 2.6.6, "Brotaufstriche,
Frühstück" Ha 2.7.1.
Viel Spaß beim Zuordnen!
- Bei "Stricken, Häkeln, Sticken" hat es hingegen nur für Ha 2.4.2
gereicht. Die hundert Bücher im Regal...
Neben diesen auffälligen Schwierigkeiten möchte ich noch exemplarisch
auf einen anderen Bereich detailliert eingehen, um Probleme zu
verdeutlichen. Ähnliches ließe sich wahrscheinlich bei vielen anderen
Sachgebieten finden, aber ich habe weder Lust noch Zeit die zu
überprüfen - und deutliche Hemmungen, irgend jemandem zu empfehlen,
sich die Umstellung auf die neue ESSB (mit den wenigen erwähnten
Ausnahmen) anzutun.
"Recht" mit seinen Unterpunkten ist vorwiegend bei So 8 untergebracht.
- Schon anfangs wird verwiesen auf Kirchenrecht (Re 3.3),
Computerrecht (Te 8.1) und Autonomierecht unter So 4.8, dort fehlt
allerdings jeglicher Hinweis darauf. Wo würde ein Benutzer bei
Betrachtung der Systematikstellen dann zuerst suchen? Wahrscheinlich
unter So 8.4 oder 8.5, um dann festzustellen, dass die Bibliothek
entweder nichts hat oder er selbst es ohne weitere Hilfe jedenfalls
nicht findet.
- Warum wird "Wirtschaftsspionage" nicht der Politik und
"Wirtschaftskriminalität" nicht So 8.1.2 (Kriminologie, Kriminalität,
Gerichtsmedizin, hier: Kriminalpsychologie, Kriminalsoziologie,
Kriminalfälle und Kriminalprozesse, Gerichtsfälle, Kriminalistik") oder
meinetwegen der "Wirtschaftssoziologie" (So 6.1.2) zugeordnet? Wo immer
man sie unterbringt, mit So 8.7 (ital. Wirtschafts- und Handelsrecht)
haben Spionage und Kriminalität wohl wenig zu tun, sofern man an dieser
Stelle nicht boshaft oder zynisch wird - dasselbe gilt aber für So
8.2.2 (Internationales Wirtschaftsrecht und Handelsrecht sowie
Wirtschaftsstrafrecht, Internationales Arbeitsrecht und Sozialrecht,
Hier auch: Wirtschaftskriminalität, Wirtschaftsspionage) auf
internationalem Parkett. Gleich darunter dann "So 8.2.3: Internationale
Kriminalität und Kriminalistik", sowie oben schon erwähnte "So 8.1.2:
Kriminologie, Kriminalität!, Gerichtsmedizin". Wie man die einzelnen
Bereiche klar abgrenzen soll, ist mir ein Rätsel.
Neben So 8 findet man "Recht" noch an anderen Stellen:
- Reiserechtsratgeber bei Er 1.8, Reisevertragsrecht aber bei So
8.6.1 ("Hier"!). Was sollte Reiserecht sonst sein? (Am Rande: Ein
eigenes "Haftpflichtgesetz" beim ital. Zivilrecht ist mir unbekannt,
was ein "Schmerzensrecht" sein soll ist noch schleierhafter.)
Im Stichwortregister wird es noch unübersichtlicher:
- Reiserecht / Ratgeber / Allgemeines Er 1.8
- Reiseversicherung / Ratgeber Er 1.8
- Reiseversicherung / Versicherungswirtschaft So 6.4.4 (das ist noch
einleuchtend)
- Reisevertragsrecht So 8.6.1
Ist eine Versicherung kein Vertrag?
- Am Anfang des Sachgebiets "Geschichte" wird auf
"Rechtsgeschichte" unter So 8.1.3 verwiesen, unten bei Ge 3.5.4
(Lebenswelten im Mittelalter) findet sich dann "Hier: Recht". Oben bei
Ge 3.5.2 (Kirche im Mittelalter) liest man "Hier: Inquisition, Ketzer",
was gleich mehrfach widersprüchlich ist:
Kirchliche Inquisition gehört zum Kirchenrecht (oder zur
Kirchenrechtsgeschichte), also Re 3.3; handelt es sich nicht um die
rechtlichen Aspekte, stellt sich die Frage der Abgrenzung zu Ge 3.5.6
"Randgruppen im Mittelalter" ("Hier: Hexenverfolgung, Hexenprozesse").
Weltliche gesetzliche Hexenverfolgung, die damit immerhin gemeint sein
könnte, und somit die eigentlichen Hexenprozesse hatten ihren Anfang
aber ganz am Ende des Mittelalters und den Höhepunkt in der Neuzeit,
die Institution der Inquisition selbst bestand in Spanien bis ins 19.
Jh., der direkte Nachfolger in Rom ist noch heute die
Glaubenskongregation. Saß hier jemand einem weit verbreiteten Irrtum
auf, als er die Phänomene ausgerechnet dem Mittelalter zuordnete?
- Und weiter zum Recht in anderen Sachgebieten:
- Al 3.2 (Medientheorie, Medienforschung) Hier auch: Medienrecht
- Me 1.5.2 (Medizinische Dienstleistungen, allg. Patientenratgeber)
Hier auch: Rechtsratgeber für Patienten allgemein
- Pä 3.0 (Schulorganisation, Schulleitung) Hier auch: Schulrecht
(Jawohl! Pä 3.0. Ich habe es kontrolliert: zusammen mit Ps 2.0
und den jeweiligen Unterpunkten zwei "singuläre" Fälle)
- So 6.5 (Branchenkunde, Verbraucherinformation) Hier:
Verbraucherschutz - Weitgehend ein rechtliches Phänomen,
europarechtlich ebenso wie national, vor allem in Haftungsfragen, bei
Garantieleistungen und Gewährleistungspflichten. Also durchaus bei So 8
unterzubringen.
- Jetzt noch einmal zurück zu Te 8.1, "Computerrecht". Was könnte das
sein? Internetrecht? Für den Juristen sind Probleme, die sich in
Zusammenhang mit neuer Technik ergeben, durchaus in schon vorhandenen
Rechtsbereichen unterzubringen, nur die Lösungen sind
bereichsspezifisch, nicht die Begriffe. Es geht also um Namens- oder
Eigentumsrechte (etwa an Domains), Urheberrechte (an Webseiten),
Haftungsfragen (bei internationalen Bestellungen), Menschenrechte
(Datenschutz) usw. usw.
Damit kommen wir zum eigentlichen Problem: Wohin mit Oberbegriffen bzw.
mit Darstellungen rechtlicher Themen übergreifenden Inhalts?
Verbraucherschutz bei So 6.5? Meinetwegen. Aber warum dann Agrar-,
Jagd- und Fischereirecht bei So 8.5.2 und nicht bei Ha X.X, warum nicht
Umweltrecht bei Na X.X? Wohin mit Lebensmittelrecht?
Hygienevorschriften? Welche Systematik steckt also dahinter,
Medienrecht, Patientenrecht, Schulrecht, Verbraucherschutz,
Computerrecht als Oberbegriffe von So 8 auszulagern und hunderte andere
nicht? Wohin das führt, zeigt sich eben beim "Reiserecht". Die einzig
kohärente Lösung wäre, analog zum Punkt 10 für pädagogische Werke bei
jedem Sachgebiet auch einen Punkt 11 für übergreifende rechtliche
Darstellungen zu haben, oder alles bei So 8 einzureihen.
Schließlich ein Lob: "Internationales Privatrecht" findet sich
richtigerweise unter "Recht einzelner Staaten" bei So 8.2.4, ich
bezweifle allerdings, dass die meisten Bibliothekare die Abgrenzung zu
den einzelnen Bereichen bei So 8.2.2 (Internationales Wirtschaftsrecht
und Handelsrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht, Internationales
Arbeitsrecht und Sozialrecht) treffen können. Tröstend könnte hier
angemerkt werden, dass das Problem sich den meisten nie stellen wird.
Dafür hätten die "einzelnen Staaten" ruhig unterteilt werden können,
zumindest nach Rechtstraditionen. Das deutsche neben dem englischen
Privatrecht? Na ich weiß nicht...
Und so weiter und so weiter.
Grüße und gute Arbeit,
Lothar Gamper
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